Ingrid Wiener

September 7 – November 16, 2019

Ausstellung: 7. September – 16. November 2019
Eröffnung: Freitag, 6. September, 18–21 Uhr

Ingrid Wiener (* 1942) stellt in ihrer dritten Einzelausstellung in der Galerie Barbara Wien neue Gobelins und die raumfüllende Installation Norden (2010–2012) vor, die sich mit dem amerikanischen Polarforscher Lincoln Ellsworth (1880–1951) und ihren eigenen Reisen in Kanada und Alaska beschäftigt. 1984 übersiedelte sie von Berlin nach Dawson City, Yukon zusammen mit Oswald Wiener. Sie gründeten CLAIMS CAFE und betrieben für einige Jahre die WHITEHOUSE CABINS, ein kleines Appartementhotel hauptsächlich für Goldgräber.

Wieners erste Ausstellung in der Galerie Barbara Wien fand 2003 statt und war den frühen Gobelins, die sie zusammen mit VALIE EXPORT wob, und den Gemeinschaftsarbeiten mit Dieter Roth gewidmet. Von 1974 bis 1997 entstanden fünf große Wandteppiche und Installationen, die Wiener und Roth gemeinsam entwickelten. Beide waren Autoren und Ideengeber und erneuerten mit den grandiosen Ergebnissen des Projektes den Blick auf das Handwerk des Webens in der Kunst.
Wiener schreibt dazu in dem 2007 erschienen Katalog des Kirchner Museums in Davos: "Mein Plan war aus dieser altmodischen Kunstform etwas Neues zu machen, unter dem Motto ’malen kann ja jeder’. Dieter Roth schien mir als der richtige Künstler, mit dessen Hilfe dieser Plan umgesetzt werden könne. Denn ’2 Frauen, die Gobelins weben’, wäre 1974 ein hoffnungsloses Unternehmen gewesen. [...] Zusammen haben wir aus dieser Kunstform etwas Neues gestaltet. Die Technik, etwas vereinfacht, wurde beibehalten, jedoch der Blickwinkel verändert und vor allem mit der Tradition des Webers als Ausführendem von gestaltetem Bildmaterial gebrochen." Das Motto von Roth und Wiener war:
"Man darf auch weben was man nicht sieht". Und der Plan ist aufgegangen, die Werke sind heute in internationalen Kunstsammlungen, u.a. im Kunsthaus Zürich und im MoMA in New York.

2008 fand die zweite Ausstellung Bedingte Wahrscheinlichkeit von Wiener in der Galerie Barbara Wien statt. Im Zentrum dieser Ausstellung stand das neunteilige Webstück Erste Schritte auf dem Weg zu Bayes (2007), in dem sich Wiener mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff des Mathematikers und Pfarrers Thomas Bayes (1702–1761) auseinandersetzte. Es ist ein Versuch, das Bayessche Theorem der bedingten Wahrscheinlichkeit zu verstehen, wobei der Ausgangspunkt für die komplexe Fragestellung das Abweben eines Notizzettels ist, den sie zerknüllt im Papierkorb fand und noch einmal genau ansehen wollte.

Diese Arbeitsweise – das Aufgreifen und Abweben von scheinbar nebensächlichen Dingen, weggeworfenen Notizzetteln und Zeichnungen, Einkaufslisten oder Gegenständen wie eine Brille oder ein Schneidmesser – ist typisch für Wieners Gobelins. Es scheint als würde sie die Dinge, die sie abwebt, in einer anderen Geschwindigkeit anschauen wollen, um sie besser zu begreifen. Oliver Koerner von Gustorf schrieb dazu: "Tatsächlich erscheint das Weben der Gobelins wie das permanente Abtasten und Aufarbeiten von Bildern, Beziehungen und Erinnerungen, die im wahrsten Sinne des Wortes im Material verknüpft werden. Die Unverzagtheit und Bescheidenheit mit der Wiener diese Sisyphosarbeit leistet, ist an Radikalität nicht zu übertreffen."

2019 setzen wir die Reise der Galerie Barbara Wien mit Ingrid Wiener fort. Wir zeigen u.a. neue Gobelins wie Schnalle (2019), Fahrplan nach Wien (2018) und Jaquardbindung (2019). Die Vorlage von Schnalle ist eine kleine Skizze, die den Mechanismus einer Gürtelschnalle darstellt; der Fahrplan war ursprünglich ein Notizzettel mit den Uhrzeiten einer Abreise und Ankunft in Wien; und Jacquardbindung geht auf eine Zeichnung zurück, die Wiener in der Ausbildung zur Textildesignerin in den 50er Jahren gemacht hat. Joseph-Marie Jacquard (1752–1834) war ein französischer Erfinder, der durch die Weiterentwicklung des (programmierbaren) Webstuhls bekannt wurde. Er konstruierte 1805 einen Webstuhl, mit dem man die kompliziertesten Muster automatisch weben konnte. Seine Erfindung war die Steuerung per Lochkartensystem. Wiener schaut sich ihren Lernstoff aus den 50er Jahren 2019 erneut an und webt die Skizzen ab, die sie als Schülerin zur Webtechnik machte – sie geht also weiter und weiter im "Abtasten von Bildern und Beziehungen".

Die große Installation Norden (2010–2012), die aus 12 Gobelins, Photographien, Aquarellen, Computerausdrucken und einem Lederhemd von Lincoln Ellsworth besteht, ist der zweite Teil der aktuellen Ausstellung. Hier verknüpft Wiener ihre eigenen Reisen und Abenteuer mit denen des Polarforschers Ellsworth, der 1926 zusammen mit Roald Amundsen als erster den Nordpol überflog. Als Wiener von einer Freundin eines Tages ein Lederhemd geschenkt bekam, das Ellsworth gehörte, begann sie seine Bücher zu lesen und stellte fest, dass sie, auf ihren Reisen in Alaska an den gleichen Orten wie einst Ellsworth gewesen ist. Sie begann diese "Zufälle", die Kreuzung des eigenen Erlebens mit dem des Forschers, in ihre Bildsprache zu übersetzen und gestaltete einen ganzen Raum, der alle Vorlagen und die Gobelins umfasst.

Ingrid Wiener, geboren 1942 in Wien, Österreich lebt und arbeitet in der Steiermark.

2007 erschien das Buch zu ihren Gemeinschaftsarbeiten mit Dieter Roth im Kerber Verlag: Die Teppiche von Dieter Roth und Ingrid Wiener, hrsg. von Karin Schick.

Seit 1998 beschäftigt sich Wiener mit Träumen.
Es entsteht eine Serie von Traumbildern (Aquarell und Bleistift), auszugsweise publiziert in:
2001 Träume / Sogni, edizione morra, Neapel
2006 Ingrid Wiener / Träume, Walther König, Köln

2019 erschien ein Buch über Ingrid Wiener im Hanser Verlag: Ingrid Wiener und die Kunst der Befreiung von Carolin Würfel.

Dorothea Zwirner Ingrid Wiener bei Barbara Wien. Der Artikel erschien in gekürzter Fassung in: Tagesspiegel, Nr. 23 938, 7.September 2019, S.32

Exhibition: September 7 – November 16, 2019
Opening: Friday, September 6, 6–9 pm

On the occasion of her third solo exhibition at Galerie Barbara Wien, Ingrid Wiener (* 1942) shows new tapestries alongside the expansive installation Norden (North, 2010–2012), which is inspired by the life of American polar explorer Lincoln Ellsworth (1880–1951) as well as Wiener’s own travels in Canada and Alaska. In 1984 she and her husband Oswald Wiener moved from Berlin to Dawson City, Yukon. They opened CLAIMS CAFÉ and for a few years also ran WHITEHOUSE CABINS – an apartment hotel mainly aimed at gold diggers.

Wiener’s first show at Galerie Barbara Wien took place in 2003 and focused on her early tapestries, which she created with VALIE EXPORT, and her collaborative works with Dieter Roth. Between 1974 and 1997, Wiener and Roth jointly developed five large gobelins and installations. The fantastic outcome of this project, in which both artists functioned as authors and providers of ideas, renewed the outlook on tapestry within contemporary art.
In the catalogue for her 2007 show at Kirchner Museum in Davos, Wiener states: "I wanted to make something new out of this old-fashioned art form, since ’anyone can paint’. Dieter Roth seemed to be the right person to help me with this project. After all, ’two women weaving tapestries’ would have been a hopeless undertaking in 1974. ["¦] Together, we created – I hope – something new from this art form. That technique, somewhat simplified, was maintained but the perspective changed and, most importantly, there was a break with the tradition of the weaver as an executor of visual material that has already been designed." Roth’s and Wiener’s idea was: "You can also weave what you do not see". The plan came to fruition and the works are now part of international collections, i.e. of the Kuntshaus Zurich and the MoMA New York.

2008 saw Wiener’s second show at Galerie Barbara Wien: Bedingte Wahrscheinlichkeit (Conditional Probability). It revolved around the tapestry First Steps on the Way to Bayes (2007), in which Ingrid Wiener deals with the term of probability according to the mathematician and priest Thomas Bayes (1702–1761). It is an attempt to understand Bayes’ theorem of conditional probability. The complex problem is portrayed on the basis of a discarded note that she reproduced through weaving.

This method of working – picking up seemingly insignificant things, discarded memos, drawings and grocery lists as well as objects like spectacles or butter knives and translating them into weaving – is characteristic of Wiener’s tapestries. It seems that she wants to look at the things that are subsequently being woven at a different speed in order to comprehend them better. Oliver Koerner von Gustorf writes: "In fact the weaving of the tapestry appears as a constant scanning and processing of images, relationships and memories, which literally become interwoven. The dauntlessness and modesty with which Wiener approaches this Sysiphean task is unsurpassable in its radicality."

In 2019 Galerie Barbara Wien continues its journey with Ingrid Wiener. We are showing new tapestries such as Schnalle (Buckle, 2019), Fahrplan nach Wien (Train Schedule for Vienna, 2018) and Jaquardbindung (Jaquard Binding, 2019). The template for Schnalle is a small sketch displaying the mechanism of a belt buckle, the one for the train schedule a note containing times for departure and arrival, and Jaquardbindung goes back to a drawing Wiener made in the 1950s when training as a textile designer. Joseph Marie Jacquard (1752–1834) was a French inventor who gained fame by further developing the automatic loom. In 1805 he constructed a loom that could be used to automatically weave the most complex patterns by using a punch card based control system. Wiener revisits the subject matter of her studies from the 1950s and turns the notes she made about weaving technology into weaves; she continues to go even further in the "scanning of images and relationships".

The large installation Norden (North, 2010–2012) – which consists of 12 tapestries as well as photographs, watercolour drawings, digital prints and a leather shirt that belonged to Lincoln Ellsworth – is the second part of the current exhibition. In this piece, Wiener interweaves her own travels and adventures with those of polar explorer Ellsworth, who was the first to cross the North Pole by plane in 1926 together with Roald Amundsen. When one day a friend of Wiener’s gave her Ellsworth’s shirt as a gift, she started reading his books and found out that when she was travelling in Alaska, she went to the same places Ellsworth had been to. She started to translate these "coincidences" – the intersection of her own experience with that of the explorer – into her visual language and created a room that encompassed all source material and the tapestries.

Ingrid Wiener, born 1941 (Vienna, Austria) lives and works in Styria, Austria.

2007 a publication of her collaborative Works with Dieter Roth, The Tapestries of Dieter Roth and Ingrid Wiener, is released by Kerber Verlag, edited by Karin Schick.

Since 1998 Wiener investigates dream images. Her ongoing series of dream images (watercolour and pencil) is partly published in:
2001 Träume / Sogni, Edizione Morra, Naples
2006 Ingrid Wiener / Träume, Walther König, Cologne

2019 Hanser Verlag published the biographical book Ingrid Wiener and the art of liberation
by Carolin Würfel.